Vorurteile über Bord geworfen – erste Eindrücke aus Georgien und dem Kaukasus

Blick auf die Altstadt von Tiflis
Blick auf die Altstadt von Tiflis

 

Tiflis – Zugegeben, viel wusste ich nicht über Georgien und die Region Kaukasien, als ich mich im vergangenen Herbst auf eine Berater-Stelle bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beworben hatte. Für die einen ist das kleine Land zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer und Europa und Asien schon lange kein Geheimtipp mehr, andere sinnieren über Stalin, Tschetschenien und den Zerfall der Sowjetunion. Das mediale Image hat sich durch den Kaukasuskrieg 2008 mit Russland und der daraus resultierenden faktischen Unabhängigkeit der Region Südossetien nicht gerade zum Besseren verändert. Die Regierung arbeitet seitdem an einer besseren Außendarstellung und verzeichnet durch den europafreundlichen Kurs seit Jahren rasant ansteigende Besucherzahlen. Für eben jene gibt es einiges zu erleben: schneebedeckte Gipfel im Kaukasus-Gebirge, anmutige Gletscher, grüne Wälder, sandige Strände, verschlafene Bergdörfer und ausgelassene, gesellige Menschen – von Schaschlik, frischem Brot, und exotischem Obst und Wein ganz zu schweigen. Zeit für einen Realitäts-Check.

Meine neue Wahlheimat ist seit August Tiflis. In der Hauptstadt hat sich in den vergangenen 20 Jahren viel getan: Kunst- und Szeneviertel sind entstanden, westliche Hotelketten haben sich niedergelassen, das öffentliche Verkehrssystem wurde massiv ausgebaut. Die Metropole wurde in den vergangenen Jahrhunderten vierzigmal zerstört und wieder aufgebaut und durch den früheren Schnittpunkt großer Handelsrouten von Heer- und Seidenstraßen maßgeblich geprägt. Die Mischung aus heruntergekommenen Fassaden und moderner Architektur verleiht dem wirtschaftlichen Zentrum seinen ganz eigenen Charme. Futuristische Glasbauten, die der einstige Staatschef Michail Saakaschwili zu Beginn des Jahrtausends von europäischen Architekten bauen ließ, verdeutlichen den Erneuerungsversuch und die Annährerung an den Westen. Auch der ehemalige Kurz-Regierungschef und Milliardär Bidsina Iwanischwili sponsort Kulturbauten, Kunststätten und Universitäten. Der umstrittene Unternehmer besitzt neben seiner Vorliebe für Picasso-Kunst und seltene Baumarten ein unfassbar großes Hang-Grundstück – der in Tiflis als „James Bond-Villa“ bezeichnete Wohnsitz wird auf einen Wert von 50 Millionen Euro geschätzt.


Die deutsch-georgischen Beziehungen haben bereits eine über 200 Jahre alte Tradition, die auf die Einwanderung schwäbischer Siedler zurückgeht. Die Tatsache, dass Deutschland in dieser Zeit zweimal das erste Land war, das Georgien nach der Unabhängigkeit 1918 und 1991 völkerrechtlich anerkannte, bringt den Deutschen noch heute viel Ansehen ein. Im Rahmen der Östlichen Partnerschaft und der Unterzeichnung eines EU-Assoziierungs- und Freihandelsabkommens soll Georgien auch zukünftig weiter an Europa gebunden werden. Dieser Aufbruch ist abseits der beiden großen Städte Tiflis und Batumi nicht spürbar. Das durchschnittliche Einkommen liegt in ländlichen  Gebieten heute deutlich unter 200 Euro. Trotz erheblicher Reformbemühungen lebt ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. In Folge der strengen Corona-Einschränkungen kam der Tourismus, der immerhin 20 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmacht, in vielen Regionen komplett zum Erliegen.

Die Bundesregierung unterstützt die gesamte Region durch die Kaukasus-Initiative im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Die Schwerpunkte liegen hierbei bei den Themen Kommunalentwicklung und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, und Umwelt und Energie. Letzteres beschäftigt mich bei der Arbeit im neuen ECO.Georgia – Projekt der GIZ. Grundsätzlich sieht sich Georgien mit einer anhaltenden Degradierung der Wälder konfrontiert, die auf hohen Brennholzbedarf der ländlichen Bevölkerung, nicht-nachhaltige Waldbewirtschaftung, illegale Holzentnahme und die spürbaren Auswirkungen des Klimawandels zurückzuführen ist. Dies hat zur Folge, dass die CO2-Speicherfähigkeit der Wälder abnimmt und die ambitionierten Klimaziele der Regierung nur schwer zu erreichen sind. Die GIZ unterstützt das Umwelt- und Wirtschaftsministerium unter anderem bei der Umsetzung der neuen Forstsektorreform, der Einführung nachhaltiger Waldbewirtschaftungsmethoden und der Integration von Energieeffizienzmaßnahmen.

Der Erhalt eben dieser Biodiversität ist wichtig, denn schließlich besitzt kein einziges Land in Europa eine so hohe Artenvielfalt wie das kleine Land am Kaukasus – das schließt Steppenwüsten, Sumpfgebiete, Europas höchste Berge und die subtropische Schwarzmeerküste ein. Einige Gebirgsregionen sind bis heute weitestgehend unberührt von zivilem Einfluss geblieben. Viele Arten konnten überhaupt erst durch den Schutz der schwer zugänglichen Bergwelt des großen Kaukasus entstehen. So entwickelten sich auf einem Fünftel der Fläche Deutschlands sieben unterschiedliche Klimazonen vom subtropisch-feuchtem Klima im Westen bis hin zu einem gemäßigten und trockenen Kontinentalklima im Osten. Das zieht auch zahlreiche Tierarten an: Europäische Bisons, Braunbären, Goldschakale, Streifhyänen und über 400 Vogelarten. Mehr als 40 Prozent der Landesfläche sind mit Wald bedeckt, davon über 4 Prozent mit Urwald. Und im Gegensatz zu unseren heimischen Wäldern sehen die georgischen Mischwälder noch richtig gesund aus.


Obwohl mein Aufenthalt bis Ende März genug Zeit verspricht, die gesamte Region Kaukasien zu erkunden, habe ich bereits einige Abstecher in den Osten Georgiens unternommen. Kachetien bildet das Zentrum der Jahrtausende alten georgischen Weinkultur. Eine Kultur, auf die die Georgier ausgesprochen stolz sind. Seit über 8.000 Jahren wird hier Wein angebaut und produziert. Die traditionelle Weinherstellungsmethode verwendet dabei eiförmige Tongefäße namens Qvevri – dabei entstehen die sogenannten Qvevri-Weine, die fermentiert und fünf Monate gelagert werden, um anschließend für weitere Monate in Eichenfässern zu reifen. Der Wein hat danach eine hellgoldene Farbe, ist dicht und ungefiltert. Dementsprechend stark und „komplex“ ist der Geschmack.  Und wie schmeckt der kachetische Wein? Nun ja, wer europäische Weine schätzt und geschmacklich nicht gerade kompromissbereit ist, wird seine Probleme haben. Achja, damit nicht genug. Die Trauben-Überreste werden anschließend destilliert, um Chacha zu brennen. Das ist 45- bis 60- prozentiger, klarer Brandy, der dir früher oder später die Schuhe ausziehen wird.

Nahezu jeder kachetische Bauer ist zugleich auch Winzer und keltert seinen eigenen Wein. Dabei stehen die Ortsnamen für gewöhnlich als Markenname hinter dem gleichnamigen Wein. Es wirkt, als wäre Wein Lebenselixier und Lebenssinn zugleich – folgerichtig spielt die Tageszeit beim Konsum eine untergeordnete Rolle. Beschäftigungsperspektiven gibt es kaum. In vielen Dörfern ist die Zeit stehen geblieben, das zeigt sich insbesondere in den beiden größten Städten Telavi und Sighnaghi. Auf dem Feld verrichten Esel die Schlepp-Arbeit, Kühe blockieren die Ortsstraße, und der Garten produziert was zum Leben benötigt wird. Und ja, jede Familie hat ihren eigenen kleinen Weingarten, der in mühevoller Handarbeit bestellt und gepflegt wird. Während unseres Aufenthalts im beschaulichen Lalisquri unterstützen wir an einem Wochenende die Familie unseres nationalen Kollegen Lasha bei der alljährlichen Weinernte. Und wie sollte es anders sein – wir trinken dabei Qvevri-Wein und Chacha aus dem Vorjahr. Nicht selten arten solche für gewöhnlich sehr trinkfreudigen Veranstaltungen aus – das liegt vor allem an der georgischen Tafelrunde, der sogenannten Supra.


Supra – ein sozial-gesellschaftliches Phänomen, das wir Deutsche uns mit der Zeit wohl etwas abtrainiert haben. Die Georgier sind ausgesprochen gesellige und gastfreundliche Menschen und sie lieeeben es, Einladungen auszusprechen und gemeinsam Wein und Essen im Übermaß zu genießen. Ein entsprechender Anlass hierzu bietet eben jene „Supra“. Bei dieser in Folge von Feierlichkeiten einberufenen Tafelrunde kommen nicht selten 30, 60 oder 100 Leute zusammen. Die Rollen sind traditionell klar verteilt: Während sich die Männer um Mzwadi kümmern, das sind die georgischen Schaschlik-Spieße, richten die Frauen die Salate und Beilagen her. Der meist männliche „Tamada“ – das ist der Tisch- bzw. Zeremonienmeister –  sitzt vor Kopf und leitet das Geschehen, in dem er Trinksprüche ausbringt. Diese folgen meist einer festen Reihenfolge. Zunächst erhebt er das Weinglas auf das Wohl der Familie, die eingeladen hat. Dann folgen Trinksprüche auf die Heimatliebe zu Georgien, die Schönheit der Natur und die Bedeutung von Freundschaft. Auch auf Eltern, Verwandte und die Vergangenheit und Zukunft wird gerne angestoßen. Mit dem Toast auf die Verstorbenen wird das Weinglas für gewöhnlich mit einem Schluck geleert. Da solche Veranstaltungen häufig mehrere Stunden andauern, sollte das Trinkverhalten stets auch auf das eigene Trinkvermögen abgestimmt werden.

In den kommenden Monaten werde ich aus verschiedenen Regionen berichten und den Eindruck von einem vielseitigen und fröhlich-stolzen Land bestätigen. Das schließt einen Besuch im verträumten Tusheti ein, das sich im großen Kaukasus-Gebirge an der Grenze zu Russland versteckt und nur mühsam über eine gefährliche und anspruchsvolle Passstraße zu erreichen ist. Der erste Gedanke: „Das ist Österreich vor 100 Jahren!“. Im wilden Vashlovani National Park im süd-östlichen Grenzgebiet zu Armenien halte ich nach Braunbären, Schlangen und einer wilden Gazellen-Herde Ausschau. Landschaftlich tolle Einblicke verspricht eine Reise in das Wanderparadies Svanetien – hier treffen mittelalterliche Städte auf schneebedeckte Gipfel, tiefe Schluchten und die launige Natur. Am Mount Kazbegh begebe ich mich auf die Suche nach dem Reiseführerziel schlechthin – der Gergeti Dreifaltigkeitskirche. Und bei der Ankunft im weiten Westen reibe ich mir verblüfft die Augen: Die hochgezogene Casino-Stadt Batumi vermittelt einen anderen Eindruck vom sonst so bescheidenen und ärmlichen Georgien – verkehrte Welt, Geld spielt an der Schwarzmeer-Metropole eine untergeordnete Rolle.


Über Kommentare, Anmerkungen und Tipps freue ich mich immer sehr, schickt daher gerne eine Email an info@globaltravelling.de.

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Eine Antwort

  1. 6. Februar 2022

    […] Omalo an, dass von allen zehn Dörfern das lebendigste ist. Bei einer traditionellen georgischen Supra beschäftigen wir uns mit der stolzen, durch viele Generationen geprägten Geschichte unserer […]

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